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Newsletter Herbst 2021

Leben nach der Flucht

Niemand flieht freiwillig heißt es auf der Website der UNO-Flüchtlingshilfe. Ein kurzer, aber prägnanter Satz: Wer flüchtet, muss seine Heimat verlassen, um woanders sicher und gesund weiterleben zu können. Akutes Beispiel dafür ist Afghanistan: Hunderttausende wollen dort dem Regime der Taliban entkommen, weil sie um ihr Leben, ihre Freiheit und Unabhängigkeit fürchten müssen. Obwohl die beiden Sachlagen nicht unmittelbar aufeinander bezogen werden können, steigen in vielen Menschen die Erinnerungen an die europaweite Flüchtlingskrise im Jahr 2015 auf.


Allein in Deutschland registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) damals 890.000 Asylsuchende innerhalb eines Jahres. Hilflosigkeit und Überforderung machten sich auf allen Seiten bemerkbar - glücklicherweise aber auch der Wunsch zu helfen, auf welche Art und Weise auch immer: Der Verein Zukunft Bauen e.V. beispielsweise entschied sich im Herbst 2015 dafür, die Patenschaft für eine geflüchtete Familie aus Syrien zu übernehmen. Das Panke-Haus war eine Kooperation mit einer Gemeinschaftsunterkunft in der Gotenburger Straße eingegangen, und eine dort zuständige Sozialarbeiterin stellte den Kontakt zu Layla her, einer Frau aus Aleppo, die zu diesem Zeitpunkt noch allein in Berlin war und auf die Ankunft ihrer Familie wartete. Aus einem Gespräch mit ihr ist ein kleiner Bericht über ihre Flucht aus Syrien und ihre Zeit in Deutschland entstanden:


IMG 0124 Layla webLayla & ihr Mann Mohamed im Garten der Kita Jacoby-Schwalbe, in der sie heute als Erzieherin arbeitetHerbst 2014: Das Leben in Aleppo wird immer riskanter. Mehrere Bombenangriffe täglich, schlaflose Nächte im Keller, Lebensmittelknappheit, ständige Angst um das eigene Leben und vor allem um das der Kinder, die zu diesem Zeitpunkt sieben, neun und dreizehn Jahre alt sind. Die Familie zieht in ein kleines Dorf, wo sie zusammen mit sieben anderen Familien in einem kleinen Haus unterkommen - diese fliehen innerhalb einiger Monate nach Irak, Libanon und Kurdistan. Layla und ihr Mann Mohamed hoffen lange auf eine Verbesserung der Lage, die allerdings nicht eintritt. Schließlich wägen sie ab, wer von ihnen zuerst das Land verlässt, um woanders ein neues Leben für die Familie vorzubereiten: „Ich war sehr eng mit den Kindern, konnte aber nicht mehr als Lehrerin arbeiten, weil alle Schulen geschlossen waren“, berichtet Layla, „und Mohamed fuhr jeden Tag nach Aleppo zur Arbeit. Wir haben uns zwar ständig Sorgen um ihn gemacht, aber er war derjenige, der Geld verdiente und die Familie weiter versorgen konnte.“ Also fällt die Flucht-Entscheidung auf Layla: Am 30. September beginnt ihr langer Weg nach Deutschland, und sie wird ihre Familie erst viel später wiedersehen als gedacht.


Die Flucht beginnt mit einer Busfahrt durch die Türkei. Layla ist mit neun anderen Menschen unterwegs, die Syrien verlassen wollen. Nachdem der Bus spätabends an einem Wald angekommen ist, laufen sie zusammen los. Es ist stockdunkel und der Weg sehr steil. Wenn es besonders beschwerlich wird, machen sie kurz Licht mit einem Feuerzeug. Eine ältere Frau fällt so oft hin, dass zwei Männer sie irgendwann tragen. Nach drei endlos erscheinenden Stunden erreichen sie schließlich das Meer. Zusammen mit zwanzig anderen Personen wollen sie nach Griechenland übersetzen. Es ist stürmisch, die Wellen sind hoch, das Wasser ist schwarz, kein Land ist zu sehen. Eigentlich soll die Fahrt sechs Stunden dauern. Doch am Strand von Rhodos sind so viele Wachen, dass der Kapitän beschließt zu warten und aufs offene Meer zurück zu fahren: Aus einigen Stunden werden 25. „Unser Boot konnte dann nicht bis an den Strand fahren, so dass wir das letzte Stück auf einem Schlauchboot unterwegs waren“, erinnert sich Layla, „Ein paar Männer haben uns die steile Küste hochgeholfen, und dann hat es angefangen zu regnen. Wir waren klitschnass. Dafür waren aber die Wachleute vom Vortag weg. Wir sind dann nochmal ewig gelaufen, wieder durch den Wald. Es gab keine Wegweiser, gar nichts. Irgendwann haben wir ein kleines Dorf gefunden. Eine Frau aus der Gruppe hat mit der Polizei geredet, und die haben uns dann einfach in einer Art Lager abgegeben.“ Dort nehmen die Mitarbeiter Fingerabdrücke und machen Fotos. Schließlich erteilen sie eine sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis und entlassen die Gruppe. Layla fährt weiter nach Athen, wo sie sich mit acht weiteren Leuten eine Wohnung mietet und für einige Monate bleibt: „In dieser Zeit habe ich immer wieder versucht meinen Mann und die Kinder zu kontaktieren, aber ihr Internet funktionierte nur sehr schlecht. Es war das allererste Mal, dass ich von ihnen getrennt war. Sie waren nicht sicher, ich hatte eine riesige Angst um sie und irgendwann das Gefühl, mein Magen wäre herausgenommen und ein paar Mal umgedreht worden.“ Irgendwann entscheidet sie sich dafür nach Deutschland aufzubrechen und dort alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit ihre Familie möglichst bald nachkommen kann.


Leider verläuft der Start in Berlin viel komplizierter als erwartet. Nach ihrer Ankunft in Tegel wird Layla zunächst verhaftet und vier Stunden lang befragt. Dann bekommt sie schließlich die Adresse der Unterkunft in der Gotenburger Straße, wo sie mit einem Taxi hinfährt. Sie kennt dort niemanden und ist sehr froh, als sie ein paar Tage später beim Essen zufällig eine Fluchtkameradin wiedertrifft: „Da hatte ich einfach riesiges Glück. Sie war seit einem Monat dort, wir haben richtig geweint vor Freude. Jetzt konnten wir uns gegenseitig trösten und füreinander da sein und hatten jemanden zum Reden.“ Genau das braucht Layla dringend in den kommenden Monaten, denn diese werden ziemlich hart. Sie bekommt im Alltag ein paar Mal heftig die Ablehnung zu spüren, die sich bei einigen Deutschen gegenüber Geflüchteten aufgebaut hat. Solange sie keine Aufenthaltserlaubnis hat, kann sie keine offiziellen Sprach- oder Integrationskurse besuchen und befindet sich unfreiwillig in einem andauernden Wartemodus. Das und die Sorge um ihre Familie lassen sie häufig verzweifeln. Trotzdem gibt sie nicht auf, und glücklicherweise hat sie auch ein paar sehr nette Menschen um sich herum. Eine Mitarbeiterin der Unterkunft verspricht ihr zu helfen und schreibt einen Brief ans BamF. Und sie lernt Heidi Depil kennen, die zusammen mit Nicole Figge über Zukunft Bauen e.V. Kontakt mit der Unterkunft aufgenommen hat: „Sie hat so viel geholfen, das werde ich nie vergessen. Über sie habe ich eine Wohnung bekommen. Die war natürlich komplett leer, und sie hat alles organisiert - Möbel, Geschirr, eine Waschmaschine, Bettwäsche,…. Ich bin so dankbar über alles, was die Leute uns geschenkt haben.“


Langsam verbessert sich die Situation: Ein paar Wochen später – sechs Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland - bekommt Layla die Aufenthaltserlaubnis und kann sich um den Nachzug ihrer Familie kümmern. Um den Jahreswechsel 2015 / 2016 ist es soweit: Mohamed und die Kinder können endlich nach Berlin kommen. Nach 15 langen Monaten ist die Familie wieder zusammen und kann einen neuen Lebensabschnitt in Sicherheit beginnen - auch dank der Unterstützung von Zukunft Bauen e.V.: „Wir waren sehr froh, als wir Laylas Familie kennenlernten und dass unser Verbund einige wesentliche Beiträge zu ihrer Integration leisten konnte“, sagt Heidi Depil. Teilweise mithilfe von Kooperationspartner*innen und ihren Mitarbeiter*innen organisiert sie Sprachkurse und sozialrechtliche Beratungen, hilft bei der Hort- und Schulplatzsuche für die Kinder, vermittelt der ältesten Tochter ein Praktikum in einem Architekturbüro und Layla einen Ausbildungsplatz als Erzieherin, weil sie in Deutschland nicht als Lehrerin zugelassen wird.

 Layla Ausflug web

Inzwischen ist Layla staatlich anerkannte Erzieherin und sehr froh über den Weg, den sie gegangen ist. Die älteste Tochter wird 2022 höchstwahrscheinlich ihr Abitur machen. Es ist erstaunlich, was die Familie innerhalb der letzten Jahre geschafft hat. Auch Heidi Depil ist tief beeindruckt: „Dass Layla - mit dem ganzen Hintergrund von Familie, Sorge um die in Syrien verbliebenen Angehörigen, Suche nach einer größeren Wohnung, Stress mit dem JobCenter, teilweise Krankheiten - die Erzieherinnenausbildung in der Regelzeit bewältigt hat und Sprachniveau C 1 erreichte, ist eine unvergleichliche Leistung.“


Das letzte Jahr hat die Familie einmal mehr auf harte Proben gestellt. Abgesehen vom jüngsten Kind erkrankten alle ziemlich heftig an Corona, eine Facharbeit und die Abschlussprüfung zur Erzieherin standen an, es gab einen Wasserschaden in der Wohnung, in die die Familie gerade neu umgezogen war. Kurz zuvor war auch noch Laylas Vater in Syrien gestorben, ohne dass sie sich von ihm verabschieden konnte. Das war selbst für eine starke Frau wie Layla zu viel: „Meine Kollegin hat angerufen und gefragt ´Wie geht es dir?` - und ich hab einfach nur geheult.“ Alles innerhalb so kurzer Zeit und in einem völlig ungewohnten Kontext zu schaffen, erfordert eine Menge Energie und Willensstärke - und es ist kein Wunder, wenn davon in solchen Situationen nicht mehr ganz so viel davon übrig ist.

Der größte Antrieb zum Weitermachen war und ist für Layla aber immer ihre Familie: „Als ich im Wald und auf dem Meer unterwegs war, hatte ich immer meine Kinder vor Augen. Und ich hatte immer die Hoffnung, dass ich es für die drei schaffen werde“, sagt sie. Heidi Depil ist überwältigt von dem, was die Fünf auf die Beine gestellt haben: „Dass diese Familie so Großartiges leisten würde bei ihrer Integration und Zukunftssicherung, konnten wir nicht ahnen.

Layla Familien webFroh über die Entwicklungen: Layla & Heidi Depil mit ihren Familien

Sie alle haben durch unglaublichen Fleiß, Ehrgeiz, eisernen Willen und ihren sehr starken Zusammenhalt immense Anforderungen und Leidverarbeitungen bewältigt. Ich kann meinen Hut gar nicht tief genug ziehen vor ihren Leistungen und emotionalen Stärken. Ich hoffe, der Verbund Zukunft Bauen kann hier und da noch ein wenig helfen, wenn wir gebraucht werden.“

 

Von außen betrachtet kann man sagen, dass Laylas Familie das Bestmögliche aus ihrer Situation gemacht hat und auf einem sehr guten Weg ist. Natürlich ist alles viel komplexer und vielschichtiger, als es mithilfe von ein paar Worten geschildert werden kann, und dieser Text ist lediglich ein kleiner Einblick. Wir danken Layla für die Zeit und Eindrücke, die sie dafür mit uns geteilt hat und wünschen der Familie auf jeden Fall weiterhin viel Kraft und alles Gute.


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